Jede Generation wächst mit ihren Naturerlebnissen auf und empfindet diese als „normal“. Das macht sie zu ihrer Basislinie (= Baseline), also dem, wie ihrer Meinung nach alles sein sollte. Dieses Gefühl wird vor allem in der Jugend angelegt. Das „Shifting-Baseline-Syndrom“ ist also die kollektive Wahrnehmungsverschiebung über den Zustand unserer Umwelt- und Naturzustände.
Es führt dazu, dass globale Veränderungen, die langsam stattfinden, von den wenigsten Menschen wahrgenommen werden und daher die Bereitschaft, etwas dagegen zu tun, sehr gering ist. Wir sollten uns aber dieser Tatsache bewusstwerden und aktiv in die Vergangenheit zurückblicken, um diese Veränderung wahrzunehmen.
Den Farbreichtum einer blühende Blumenwiese oder Ackerrandes können sich Kinder heute gar nicht vorstellen, die mit gelben Löwenzahnwiesen und bis auf den letzten Zentimeter genutzten Feldern aufgewachsen sind. Da hilft manchmal nur die Erzählung der Großeltern, wobei diese oft emotional gefärbt sind und stärker faktenbasierte Informationen hilfreicher wären.
Als beliebte Beispiele werden aus dem Natur- und Umweltschutzbereich sehr oft der Zustand der Gewässer genannt. Die Verschmutzung der Meere, das Sterben der Korallenriffe, die Überfischung und die Austrocknung von Flüssen oder Seen (Aralsee; Tschadsee, beide zu 90% verschwunden) sind innerhalb von 2 Generationen passiert, werden aber global kaum als Alarmsignal wahrgenommen.
Allerdings gibt es nicht nur Veränderung in die negative Richtung, sondern auch positive Beispiele. Die Qualität unserer Fließgewässer hat sich seit den 70iger Jahren stark verbessert. Kaum ein heute 20-Jähriger kann sich vorstellen, dass Voralpenflüsse zu dieser Zeit biologisch fast tot waren. Von grauen Schaumkronen bedeckt, die sich oft meterhoch aufgetürmt haben, war selbst die Donau so verschmutzt, dass man nicht darin schwimmen wollte und dies auch nicht ratsam war. Überlebende Fische aus diesen Gewässern hätte man höchstens in kleinen Mengen essen können. Leider sind diese positiven Beispiele im Natur- und Umweltschutz derzeit allerdings viel seltener als die bedrohlich Negativen. Trotzdem sollten sie uns Hoffnung schenken, da sie zeigen, wie schnell sich die Natur erholen kann, wenn man es zulässt.
In Fragen der Wahrnehmung des „Normalen“ ist es hochnotwendig, zu erinnern wo sich in den letzten Jahrzehnten große Defizite aufgetan haben. Ohne diese Achtsamkeit nehmen wir den dramatischen Niedergang, der unser Überleben langfristig bedroht, nicht als Bedrohung wahr und unsere Bereitschaft, dagegen aktiv vorzugehen bleibt minimal.
Allein der Unterschied, wie viele Insekten früher auf der Windschutzscheibe bei jeder Fahrt ihre Spuren hinterlassen haben, und heute kaum ein Insekt so sein Ende findet, wird von jungen Autofahrer*innen eher erfreulich-positiv wahrgenommen. Dass dies aber eine Bestätigung dafür ist, dass wir 80% der Insektenbiomasse in den letzten Jahrzehnten verloren haben, macht uns leider zu wenig nachdenklich.
Auch die Versiegelung der Landschaft, das Verbauen der fruchtbaren, ebenen Talböden, das Zusammenwachsen von Dörfern durch ihre Gewerbegebiete werden nur in der Rückschau und dem Vergleich mit vor 20, 30 oder 50 Jahren schmerzlich bewusst. Natürlich brauchen wir auch Infrastruktur, nur das Ausmaß des Voranschreitens und das „Nicht-Wahrnehmen“ durch diesen schleichenden Prozess wird zur Gefahr, dass wir etwas sehr Bedrohliches nicht als solches, sondern als Normalität wahrnehmen! Und so ist das „Shifting Baseline Syndrom“ auch in der voranschreitenden Klimakrise ein großes Problem. Aussagen wie „Früher war's auch immer wieder warm“ ist nur ein harmloses Beispiel dafür, wie man den fatalen Tatsachen nicht ins Auge blickt.
Reinhard Pekny und Nina Schönemann